
Sehr geehrte Maturae und Maturi, Kolleginnen und Kollegen, lieber Luigi, geschätzte Gäste
Ich freue mich, bei diesem feierlichen Anlass zu Ihnen sprechen zu können, denn von der Maturitätsschule für Erwachsene habe ich schon einiges gehört, aber wenn ich mir ihre Schülerschaft vorstellen wollte, kam nie ein klares Bild auf.
Erwachsene. Gut. Aber was sind das für Erwachsene, die dreieinhalb Jahre neben allerlei Verpflichtungen – familiären wie beruflichen – bewusst einen Weg gewählt haben – ich nehme an, er war zeitweise steinig – um die Matura zu erwerben?
Warum haben die das nicht in jungen Jahren getan, was hat sie gehindert, warum waren sie damals noch nicht so weit, welche Voraussetzungen waren nicht gegeben und warum sind sie es jetzt? Nun, was immer diese Erwachsenen angetrieben haben mag, und was immer sie mit der Matura vorhaben, ich stelle mir vor, es ist ein Grüppchen, das den Wert von Bildung zu schätzen weiss.
Davon gleich noch etwas mehr.
Zuvor aber ein Hinweis in eigener Sache: Eine Festrede auf einer Maturafeier halten zu dürfen, ist eine Ehre, und die wird einem nicht ohne Verpflichtungen gewährt. Um mich in meiner Aufgabe zu unterstützen habe ich deshalb im Vorfeld drei Autoritäten gefragt, was denn in so einer Maturarede beim Zielpublikum ankomme: Ihren Rektor Luigi Brovelli; ihm verdanke ich die Einladung. Meinen Sohn Florian, selbst ein Empfänger des Maturazeugnisses, und J. K. Rowling, die Schöpferin von Harry Potter.
Rektor Brovelli erwies sich als Experte, wenngleich als wortkarger. Was ankomme? Alles, was dazu beiträgt, dass dieser Moment unvergesslich bleibt. Punkt. Ich fühlte mich ermutigt und fragte mich, ob ich meine Zusage noch zurückziehen sollte.
Der Anlauf bei meinem Sohn half, das Niveau etwas auszutarieren: Spielt keine grosse Rolle, was du sagst, solange nur das Wort «Reife» nicht vorkommt.
Blieb also noch J. K. Rowling, die in ihrem Büchlein Very Good Lives beschreibt, wie sie selber mit einiger Beklemmung an einer Graduierungszeremonie teilnahm und die Festrede hielt. Ihr hatte geholfen, sich an die eigene Abschlussfeier zu erinnern.
Die Festrednerin war damals die renommierte britische Philosophin Baroness Mary Warnock. An deren Festrede zurückzudenken half Rowling enorm beim Verfassen der eigenen. Denn, wie sich herausstellte, konnte sie sich an kein einziges Wort mehr erinnern.
Und so geht es mir wie der berühmten englischen Schriftstellerin: Ich stelle mit einem befreienden Gefühl fest, dass zum einen die Halbwertszeit feierlicher Reden etwa so lang ist, wie sie dauern. Zum anderen laufe ich nicht Gefahr, Sie mit meinen Worten zu beeinflussen und Sie womöglich von ihren künftigen Plänen abzubringen. Ich lustwandle nämlich seit gut 30 Jahren in der Bildungslandschaft und bin vor allem an der Ausbildung von Lehrpersonen beteiligt. Dafür rekrutiere ich typischerweise in Infoveranstaltungen, aber bei passender Gelegenheit auch auf Maturafeiern.
Doch zurück zu dem Grüppchen von Erwachsenen, das ich jetzt tatsächlich vor mir habe.
Der Wert von Bildung. Es ist nicht ganz einfach, diesen zu bestimmen. Wir täten uns vergleichsweise noch leicht, wenn Sie mir mitteilen würden, was Sie mit ihrem Maturazeugnis vorhaben: einen passenden Bilderrahmen aussuchen und sich dann das weitere Leben am Erreichten erfreuen – oder noch ein Brikett nachlegen und beispielsweise ein Studium beginnen.
So oder so, wir könnten gemeinsam abschätzen, wie der künftige Cashflow Ihres Einkommens aufgrund Ihrer Matura aussehen würde, diesen diskontieren und den heute gültigen Barwert berechnen. Mindestens den monetären Wert der Bildung hätten wir so einigermassen im Griff. Deutlich anspruchsvoller wird es, wenn wir den persönlichkeitsentwickelnden Wert der Bildung herausfinden wollten. Monetäre oder andere metrische Masse stehen uns kaum mehr zur Verfügung.
Hierzu ein persönliches Erlebnis: Vor gut zehn Jahren nahm ich ein Sabbatical und half bei einem Teacher Enrichment Program am Ostkap von Südafrika mit. Mein Kollege, der an der Rhodes University den Lehrstuhl für Didaktik der Mathematik innehat, bot mir an, an seinem laufenden Forschungsprojekt teilzunehmen.
Mein Aufgabe klang ebenso einfach wie vielversprechend: Nach einer halben Stunde begleiteter Fahrpraxis im Linksverkehr und einer Besichtigung von vier Schulen in Townships würde ich ab dem kommenden Montag mit einem weissen Golf der Universität Woche für Woche an den Indischen Ozean fahren, je ein anderes Township besuchen und dort computergestützt Mathematik unterrichten, um – in einer etwas versteckten Agenda – den Lehrpersonen Anregungen zu geben, wie der häufig anzutreffende Unterrichtsstil «Chalk & Talk», also Kreide und Wandtafel, angereichert werden könnte.
Ich glaube, dass heute niemand der damals von mir Instruierten auch nur den Schimmer einer Erinnerung an meinen Unterricht hat – nur ich sehe noch manche meiner Schülerinnen und Schüler fotografisch vor mir.
Warum? Weil nur Bildung Ihnen den Hauch einer Chance geben konnte, einer Zukunft mit sehr limitierten Entwicklungsmöglichkeiten auszuweichen. Zwar ist es vergleichsweise einfach, auch mit bescheidenen finanziellen Mitteln an einer Top- Universität in Südafrika studieren zu können, doch die Aufnahme stellt eine Hürde dar. Eine grosse.
Nach britischem Vorbild errichtete und opulent ausgestattete Privatschulen kümmern sich um das Überspringen dieser Hürde, jedoch zu einem Preis, der einem selbst für schweizerische Einkommensverhältnisse rohe Zwiebeln auf die Augen legt. Ungleich schwieriger ist es, den Zugang über staatliche Schulen und erst recht über Schulen in Townships zu schaffen. Und doch: in jeder meiner Klassen gab es rohe Talente, jedenfalls in Mathematik. Grosse Ambition, viel Fleiss und hohes Durchhaltevermögen bildeten die Grundlage für einzelne, aber viel zu wenige success stories.
Als ich einen Lehrer vom Kap mit im Auto zurück nach Grahamstown nahm, erzählte er mir von einer seiner Schülerinnen, die jeden Morgen früh, sehr früh aufbrach, einen Fluss im Wasser zu überqueren hatte, durch unwegsames Gelände lief, schliesslich nach ca. zwei Stunden Schulweg in der Klasse ankam, schon vor der grossen Pause meist einschlief und am Nachmittag den langen Weg wieder zurücklief. Und doch: Sie kam jeden Morgen für ein Quentchen Bildung. Was ist deren Wert?
Für uns ist klar: Bildung lehrt uns nicht nur Fakten, sondern auch, wie man Fragen stellt, Informationen bewertet und eigenständig zu fundierten Schlussfolgerungen kommt. Wir sind von einer Flut von Daten umspült – aber wie werden aus Daten Fragen und aus Fragen schliesslich Urteile? Der US-amerikanische Schriftsteller und Futurologe Alvin Toffler wähnte denn auch, die Analphabeten des 21. Jahrhunderts würden nicht jene sein, die nicht lesen und schreiben können, sondern jene, die nicht lernen, verlernen und wieder lernen können.
«Bildung ist, was übrigbleibt, wenn alles Gelernte wieder vergessen ist.» Diese Albert Einstein zugeschriebene Aussage zielt darauf, dass Bildung einen Kaffeesatz des Wissens hinterlässt, der uns befähigt, Dingen auf den Grund zu gehen, sie zu analysieren, zu verknüpfen und mehrschichtige Sichtweisen zu entwickeln. Und an Notwendigkeit dafür mangelt es nicht.
Als ich vor 45 Jahren, fast auf den Tag genau, mein eigenes Fachmaturitätszeugnis entgegennahm, fütterte man Computer noch mit Lochkarten. Vor gut 30 Jahren begann am CERN die Entwicklung des World Wide Web. Vor 20 Jahren waren PCs schon längst weit verbreitet, E-Mails im akademischen Austausch eine Selbstverständlichkeit.
Eine weitere Dekade später erinnert nur noch der Namensbestandteil «Phone» an den ursprünglichen Verwendungszweck eines handgrossen digitalen Alleskönners, und als «sozial» bezeichnete Medien schicken sich an, unsere innere und äussere Welt grundlegend zu verändern. Doch was ursprünglich mit der Hoffnung auf eine Verbreitung und Demokratisierung des wahren Wissens einherging, lehrt uns heute, auch im Lichte der Fähigkeiten künstlicher Intelligenz das Fürchten vor einer Springflut des manipulativ Falschen.
Es ist dies heute eine der anspruchsvollsten gesellschaftlichen Aufgaben, dass uns Wissen, Vernunft und Sachverstand nicht abhandenkommen, wir uns nicht in eine Echokammer einschliessen oder einschliessen lassen, in der wir nur noch das zustimmend bestätigen, was wir eh schon zu wissen glauben. Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber die Realität verwehrt uns das Recht auf eigene oder alternative Fakten.
Geschätzte Maturae und Maturi, am Ende meiner Ansprache bleibt mir nur noch, Ihnen herzlich zum Erreichten zu gratulieren. Mark Twain, einer meiner Lieblingsschriftsteller, befand: «Die zwei wichtigsten Tage in Ihrem Leben sind der Tag, an dem Sie geboren wurden, und der Tag, an dem Sie herausfinden, warum.»
Ich hoffe, Sie fügen diesen beiden Tagen heute einen weiteren hinzu.