Sehr geehrte Absolventinnen, sehr geehrte Absolventen
Mir wurde die Ehre zuteil, ein paar Worte an Sie zu richten, an diesem für Sie so wichtigen und wohlverdienten feierlichen Anlass. Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zu Ihrer bemerkenswerten Leistung. Sie haben die Passerelle bestanden. Dadurch haben sich Ihnen viele Türen geöffnet. Ich möchte Ihnen heute ein paar Gedanken mit auf Ihren Weg geben und hoffe, dass diese Ihnen nützlich sein werden.
Korrekte Selbsteinschätzung
Ich beginne im Strassenverkehr: Die meisten Autofahrer glauben, sie seien überdurchschnittlich gute Autofahrer. Je nach Studie sind das 74 bis zu 90 %!
Die meisten Studierenden glauben, sie seien unterdurchschnittlich gute Studierende.
Sie haben mit dem erfolgreichen Abschluss der Passerelle Grosses geleistet. Lassen Sie sich nichts anderes einreden, vor allem nicht von sich selbst!
Die Passerelle ermöglicht Ihnen das Studium an allen Schweizer Hochschulen, analog zur gymnasialen Maturität. Der «Anteil der Jugendlichen, die bis zum 25. Altersjahr ein gymnasiales Maturitätszeugnis erworben haben, in % der gleichaltrigen Referenzbevölkerung» beträgt für die Stadt Luzern 26.2 %, für den Kanton Luzern 19.3 %». (BFS: https://www.bfs.admin.ch/asset/de/14756396) Nehmen wir die Passerelle hinzu, erhöhen sich diese Zahlen ganz leicht auf etwa 27 und 20 % für Stadt und Kanton. Unter Ihren gleichaltrigen Peers verfügt also etwa jede 4. Person in der Stadt Luzern und jede 5. Person im Kanton Luzern über diesen allgemeinbildenden Hochschulzugang. Mit der Passerelle haben Sie sich eine «vertiefte Allgemeinbildung» erworben. Staatlich geprüfte Allgemeinbildung! Das kann nur etwa jede 4. Person in dieser Stadt von sich behaupten. Sie sind hiermit also offiziell überdurchschnittlich gut gebildet. Gar nicht so schlecht, oder?
Ich habe ein weiteres Zitat entdeckt, aus der Broschüre der Maturitätsschule für Erwachsene zur Passerelle (auf Seite 6, falls jemand nachlesen will): «Da der Kurs nur ein Jahr dauert, werden hohe Ansprüche an das Wissen, die intellektuellen Fähigkeiten und das Zeitmanagement der Studierenden gestellt.» Finden sie sich wieder? «Die intellektuellen Fähigkeiten»! Also: Intelligenz. Im Kontext des Bildungssystems lässt sich behaupten – vielleicht etwas ungenau, aber grundsätzlich zutreffend –, dass Sie für höhere Bildungsabschlüsse auch eine höhere Intelligenz (in der klassischen Definition) benötigen. Sie haben jetzt einen Abschluss erworben, der Intelligenz voraussetzt und den nur jede 4. Person in Luzern besitzt. Sie sind hiermit also offiziell überdurchschnittlich intelligent. Herzlichen Glückwunsch!
Die Bildung haben Sie zumindest teilweise in dem Jahr der Passerelle erworben oder wenigstens erweitert. Die Intelligenz – die hatten Sie schon immer!
Überdurchschnittlich gebildet, überdurchschnittlich intelligent. Das gilt bereits jetzt, heute, und es wird immer gelten. Erinnern Sie sich daran, wenn Ihnen im Laufe Ihres weiteren Bildungsweges Zweifel an Ihren Fähigkeiten kommen sollten. Tappen Sie nicht in die Falle der meisten Studierenden, die meinen, sie wären nicht gut genug.
Und denken Sie daran: Intelligenz ist ein Werkzeug, mit dem Sie Bildung erwerben können. Bildung ermöglicht Ihnen, bessere Entscheidungen zu treffen.
Tappen Sie bitte auch nicht in die Falle, dass Sie der Weg über die Passerelle irgendwie zu zweitklassigen Studierenden machen würde gegenüber denjenigen, die den Standardweg über die gymnasiale Maturität gegangen sind.
Ich stehe heute vor Ihnen als promovierter Wissenschaftler und Leiter des Zentrums Lehre der Universität Luzern. Das klingt meiner Meinung nach gar nicht so schlecht. Es ist sicher mehr, als mir so manche Person zugetraut hat. Ich bin sehr zufrieden mit meiner Stelle, mit meinem Aufgabenbereich, und ich könnte mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen spannenderen Job vorstellen. Mein Weg war aber alles andere als geradlinig. Ich habe geradlinig angefangen, in Bayern, mit Bestnoten in Grundschule und Gymnasium, bis ich dann irgendwie das Interesse an Schule verloren und eine Klasse wiederholt habe. Schliesslich bin ich vom Gymnasium abgegangen an eine Fachoberschule, Fachrichtung Technik. Das entspricht in etwa der Schweizerischen Fachmaturität. Nach diesem Abschluss war ich aber mit meinen Möglichkeiten unzufrieden – Sie können das vielleicht nachvollziehen – und bin zurück an mein altes Gymnasium und habe das Abitur als sogenannt «Externer Bewerber» nachgeholt. Das ist etwa der Passerelle vergleichbar und es hat mir ein Studium der Philosophie ermöglicht, …
… das ich zwei Jahre später ohne Abschluss abgebrochen habe. Ich habe all meinen Besitz verschenkt oder verkauft und bin mit einem One-Way-Ticket nach Indien. Es folgten Thailand, Australien, Israel und diverse Zwischenjobs. Eineinhalb Jahre später habe ich mein Studium der Religionswissenschaft begonnen und recht zielstrebig wiederum ein paar Jahre später mit der Promotion abgeschlossen. Dann war ich ein paar Jahre lang Studienberater an der Uni Luzern und habe schliesslich aufgrund meines Interesses für Hochschuldidaktik das Zentrum Lehre übernommen.
Die Passerelle hat mir diesen Weg ermöglicht. Sie sehen, die Bildungsbiographie eines Menschen lässt sich nicht unbedingt von seiner heutigen Situation ableiten. Wichtig sind die Möglichkeiten, die Sie sich selbst eröffnen, und die Chancen, die sich daraus ergeben und die Sie aktiv ergreifen.
Studienleistungen im 1. Studienjahr
Viele von Ihnen werden wahrscheinlich bald an einer Universität studieren. Falls Sie noch auf der Suche sind, ich kenne da eine Uni, die ich ganz gut finde …
Ich habe vorhin das überkritische Selbstbild vieler Studierender erwähnt. Das hat einen Grund: Eine sehr einsichtsreiche Studie zu Alumni in der Schweiz hat erörtert, welche Faktoren dazu führen, dass das begonnene Studium auch erfolgreich abgeschlossen wurde. Für das erste Studienjahr gibt es unter anderem drei Faktoren. Der erste ist eine korrekte Selbsteinschätzung. Das haben wir eben schon ausführlich besprochen. Der zweite Faktor sind die Studienleistungen im ersten Studienjahr.
Ja, Sie haben gerade sehr viel geleistet und verdienen eine Pause. Wenn Sie dann aber wieder loslegen (vielleicht schon in zwei Wochen?) legen Sie richtig los! Wenn Sie in Ihrem gewählten Studium frühe Erfolge haben – ein gutes Referat, gute erkenntnisreiche Diskussionen und natürlich bestandene Klausuren – dann werden Sie – so behauptet es jedenfalls die statistische Analyse – Ihr Studium auch erfolgreich abschliessen.
Studieren Sie also mit Aufmerksamkeit, mit Interesse, finden Sie Verbindungen von Ihrem Studienfach zu Ihrem eigenen Leben, machen Sie sich Ihr Studienfach zu eigen, werden Sie ein Nerd.
Sie treten an einem interessanten Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte in das Studium ein: Stichwort künstliche Intelligenz. Viele Bereiche unseres Lebens werden sich unter dem Einfluss von KI ändern, oder haben sich bereits geändert. Die Bildung ist ganz sicher einer davon. Am Ende Ihres Studiums werden Sie eine Arbeitswelt vorfinden, die mindestens in Teilen anders funktioniert als heute und andere Skills verlangt. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gehört der professionelle Umgang mit künstlicher Intelligenz dazu.
Zum aktuellen Zeitpunkt ist alles noch im Umbruch, in einer globalen Beta-Phase. Was heute noch nicht so richtig funktioniert, wird aber bald viel besser funktionieren. Stellenweise lässt sich KI bereits sehr gut nutzen, zum Beispiel, um motivierende Zitate für eine Ansprache an Alumni der Passerelle zu generieren. Sie haben sicher schon von ChatGPT gehört. Mit einem schönen Gruss trage ich Ihnen hier also ein Zitat von ChatGPT vor. Ein Zitat geschrieben von künstlicher Intelligenz, die uns schon seit vielen Jahren im Schach gnadenlos überlegen ist und entsprechend tiefgreifende Lebensweisheiten mit uns teilt:
«Die Schule hat euch vielleicht auf das Leben vorbereitet, aber sie hat euch definitiv nicht auf die Erwachsenenwelt vorbereitet. Dort gibt es nämlich keine Sommerferien!»
Naja. Das üben wir nochmal!
«Wenn das Leben euch Zitronen gibt, macht Limonade daraus. Aber vergesst nicht, dass ihr auch Zucker und Wasser braucht. Und ein Leben ist mehr als nur eine Zutat.»
So klingt das wohl in der Beta-Phase. Einen Versuch noch:
«Im Studium lernt ihr, wie man eine 15-seitige Arbeit über ein Thema schreibt, das in einem Satz zusammengefasst werden könnte. Das nennt man dann ‹akademische Tiefe›.»
So langsam wird’s.
Aber künstliche Intelligenz ist nur einer der sehr grossen Umbrüche, vor denen wir stehen, bzw. die schon längst passieren, und die für Sie auf die eine oder andere Weise hochrelevant werden. Ich möchte ja kein Untergangsprophet sein, aber wie klingt das, wenn wir ein paar Schlagworte aneinanderreihen: Klima-Katastrophe (Südeuropa brennt ab – jetzt immer noch in Griechenland – und Hamburg soll in 20 Jahren das Klima des heutigen Südfrankreichs haben), Pandemien, Artensterben, Antibiotikaresistenz, eine globale Politik, in der es wieder üblich wird, dass auch die von unseren Medien beachteten Staaten ganz offen Krieg führen.
Sie sind die Generation, die heute im Notfallplan das machen muss, was meine Generation schon längst hätte machen müssen, nämlich die Weichenstellungen korrigieren, die meine Elterngeneration – Ihre Grosselterngeneration – in Ignoranz gesetzt hat.
Aber es gibt mittel- und langfristige Perspektiven und es gibt Anlässe, die zum richtigen Zeitpunkt gefeiert werden wollen.
Soziales Netzwerk
Feiern ist eine soziale Angelegenheit und dies ist der dritte Punkt aus der Alumni-Studie: Es konnte gezeigt werden, dass es signifikant zur Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass Sie Ihr aufgenommenes Studium erfolgreich abschliessen, wenn Sie schon im ersten Studienjahr ein soziales Netzwerk bilden können.
Sprechen Sie mit Ihren Mitstudierenden, bilden Sie Lerngruppen, gehen Sie gemeinsam in die Mensa, zum Sport, in den Chor oder ins Kino. Und wenn Ihre Fachschaft einen Pub-Crawl anbietet, dann ist das zwar nicht meine erste Empfehlung, aber auch das ist eine soziale Aktivität, die dazu beiträgt, dass Sie sich mit Ihrem Studiengang und als Studierende identifizieren. Ja, das dürfen Sie gerne als Ausrede verwenden gegenüber kritischen, zum Beispiel elterlichen Einwänden.
Das Studium gilt generell als zweite Sozialisation. Und was dazu beiträgt, dass Sie sich in Ihrer Hochschule und in Ihrem Studiengang zuhause fühlen, alles, das dazu beiträgt, dass Sie sich als Soziologin, als Jurist, als Wirtschaftswissenschaftlerin oder als Philosoph identifizieren, wird Ihnen helfen.
Einen Spruch hab ich noch:
«Ihr seid jetzt offiziell klug genug, um zu erkennen, wie wenig ihr eigentlich wisst.»
Dieser Satz gefällt mir schon besser. Die grosse Kunst ist, zu wissen, was man nicht weiss. Lernen findet ein Leben lang statt, und das ist meiner Meinung nach einer der schönsten und interessantesten Aspekte des Lebens. Gehen sie also los, lernen Sie, handeln Sie, machen Sie sich und anderen ein schönes Leben.
Abschliessend möchte ich Ihnen auf Ihren weiteren Weg mitgeben:
Nutzen Sie Ihre Intelligenz und Ihre Bildung für gute Entscheidungen. Sie sind die Zukunft. Die Gesellschaft, die Welt, braucht Sie.
Und gehen Sie ruhig auch mal feiern. Zum Beispiel heute Abend. Wie wir wissen, trägt das zu einem erfolgreichen Studium bei.
Viel Erfolg!