
Liebe Absolventinnen und Absolventen, geehrte Familien und Angehörige, geschätzte Lehrpersonen!
Wir, Stefan Joller und Alina Müller, begrüssen Sie auch noch von unserer Seite her ganz herzlich zur diesjährigen Passerellen-Abschlussfeier und gratulieren allen Absolventinnen und Absolventen.
Heute versammeln wir uns, um gemeinsam einen wichtigen Meilenstein in unserem Leben zu feiern – den Abschluss der Passerelle. Ein Jahr voller harter Arbeit, Lernen und persönlichem Wachstum liegt hinter uns. In dieser vergleichsweise kurzen Zeit haben wir viel erreicht und sind nun bereit, die nächsten Schritte in Richtung unserer individuellen Ziele zu gehen. [Pause]
Ist Ihnen bis hierhin etwas Spezielles an unserer Rede aufgefallen? Vermutlich nicht. Vielleicht dachten Sie sich: «Nei, jetzt redet no meh vo dene!» Oder: «Wie lang gaht’s echt no, bis de Apéro afangt?» Keine Angst, wir verstehen das. Wir wollten auch nicht immer allem zuhören, was zuvorderst im Raum erzählt wurde. Falls Sie allerdings dachten, es sei bis hierhin doch eine gute Rede gewesen, vielen Dank. Aber haben wir diesen Dank überhaupt verdient?
Als uns die Anfrage erreichte, diese Abschlussrede zu halten, war es eine grosse Ehre für uns. Bevor wir aber mit dem Schreiben dieser Rede beginnen konnten, mussten wir uns eine Frage stellen: «Was muss eine Person können, damit ihr eine Abschlussrede gelingt?»
Unsere Erkenntnis:
1. Sie kann gut mit Worten.
2. Sie ist unglaublich attraktiv.
Sie sehen, wir sind zu zweit auf dieser Bühne. Jeder und jede von Ihnen darf jetzt für sich selbst entscheiden, wer von uns welchen Job übernommen hat.
Wir kannten nun also das Profil eines guten Redners, einer guten Rednerin. Allerdings war da noch ein anderes Problem, das still und leise immer näher kam und uns die Zeit zum Schreiben raubte: die Ergänzungsprüfungen. Und so kam es, dass wir eines regnerischen Sonntags dasassen und, beinahe am Rande der Verzweiflung, Ideen zusammenkratzten. Schliesslich taten wir das, was jeder ratlose Schüler und jede erschöpfte Studentin spätestens seit dem Februar dieses Jahres tut: Wir wandten uns an ChatGPT.
Um die entsetzten Blicke der Deutschlehrpersonen zu besänftigen: Glauben Sie uns, wir waren nicht einfach nur faul, als wir unsere Einleitung von ChatGPT schreiben liessen. Die Erkenntnis, die «Anagnorisis», folgt noch.
Die meisten von Ihnen werden bestimmt schon einmal von ChatGPT gehört haben. Es ist eine Anwendung, die aufgrund von künstlicher Intelligenz beinahe jede erdenkliche Frage beantworten kann.
In unserer verzwickten Lage zwischen dem Schreiben dieser Rede und den drohenden Prüfungen hatten wir durchaus ein klein wenig Zeitdruck. So wollten wir auch unseren Lernprozess vereinfachen und fragten ChatGPT, nachdem das mit der Einleitung dieser Rede so gut geklappt hatte, ein paar Kleinigkeiten zu unserem Lernstoff:
«Wer war Wilhelm Tell und was will meine Lehrperson an der mündlichen Prüfung wissen?»
«Wilhelm Tell ist eine zentrale Figur in der Schweizer Geschichte. Die folgenden Dinge könnte dich deine Lehrperson fragen …»
Darauf folgte eine Auflistung von inhaltlichen Aspekten. Offensichtlich waren diese Informationen korrekt, denn wir stehen ja heute vor Ihnen.
Aller guten Dinge sind zwei – also stellten wir erneut eine Frage.
«Kannst du mir bitte kurz erklären, worum es im Roman ‹Herr Kato spielt Familie› geht?»
«Der Roman erzählt die Geschichte von Herrn Kato, einem alten Mann japanischer Herkunft, der einsam in Wien lebt. Er beschliesst, eine fiktive Familie zu erfinden, um seiner Einsamkeit zu entkommen.»
Naja … zumindest jeder Schüler, jede Schülerin und jede Deutschlehrperson in diesem Raum sollte wissen, dass das nicht wirklich das Buch beschreibt, das wir letzten Frühling gelesen haben.
Bereits nach dieser kurzen und knappen Konsultation der künstlichen Intelligenz wurde uns klar: Im Gegensatz zu unseren Lehrpersonen kann ChatGPT vieles, aber nicht alles.
Spass bei Seite, auch Sie können nur beinahe alles. Trotzdem waren Sie es, liebe Lehrerinnen und Lehrer, die Sie uns Ihr fachspezifisches Wissen mit Leidenschaft beigebracht haben, und nicht etwa eine künstliche Intelligenz, die gut und gerne einmal unzureichende Informationen ausspuckt. Dank Ihnen haben wir in einem Jahr in einer Vielzahl von Fächern unglaublich viel gelernt.
Beispielsweise in Geografie. Kennen Sie die folgende Situation nicht auch? Ein bereits gelungener und unterhaltsamer Freitagabend im Ausgang wird noch viel besser, wenn jemand Sie darauf anspricht, wie Magma entlang neu entstandener Störungsflächen aufsteigt, Grundwasserschichten durchquert, dabei Wasser schlagartig in Dampf umwandelt, welches sich danach mit einem horrenden Tempo ausdehnt, der daraus entstandene Druck sprengt ganze Krater weg, worauf explosive Ausbruchtätigkeiten von wenigen Stunden bis hin zu ganzen Tagen folgen?
Sie kennen es nicht? Ich auch nicht, aber sollte es so weit kommen – wir sind bereit!
Weiter zu Deutsch! Wir haben viel gelesen, viel interpretiert und waren in den Zeilen sowie dazwischen unterwegs. Die Literaturanalyse war zwar nicht die Lieblingsbeschäftigung jedes Lernenden, hat uns in der Retrospektive aber doch einiges gebracht.
Ein Buch zu lesen, mit anderen darüber zu diskutieren und bei einem Theaterstück die Handlung mitzuerleben – das alles zeigte uns, wie viele Facetten eine einzelne Erzählung haben kann, wie viel Macht Worte in sich tragen und wie Sprache positiv, aber auch negativ eingesetzt werden kann.
Mehrheitlich positiv sind auch die Erinnerungen an den Physikunterricht. Die Grundsätze von Kinematik, Dynamik und Newtons Gesetzen zu verstehen ist schon toll, aber, liebe Mitstudenten und Mitstudentinnen, ihr wisst, daraus ergibt sich auch schneller als einem lieb ist die folgende Situation: Ihr sitzt an eurem Tisch, mit Taschenrechner und Formelheft bewaffnet, und stellt euch die Frage: Wie ist es möglich, dass ein Airbus A380 auf der Startbahn in Zürich mit –3 m/s2 beschleunigt, die kleine Ursi es aber gleichzeitig schafft, ihren Curling-Stein in nur 5 Sekunden auf 300 km/h zu beschleunigen? Spätestens an diesem Punkt sollte euch klar werden: Es ist nicht schlecht, sich selbst und sein Handeln hin und wieder zu hinterfragen.
Etwas gemächlicher ging es im English-Unterricht zu und her, wo wir uns nicht nur mit Grammatik auseinandergesetzt haben. Die Fremdsprache wurde uns auch im Bereich der Kunst, Kultur und Geschichte nähergebracht. An dieser Stelle will erwähnt sein, dass es eine Handvoll Personen in diesem Raum gibt, denen die Passerelle an sich noch nicht genug schwierig war. Sie haben sich, aus unerklärlichen Gründen, dazu entschieden, anstelle von Englisch Französisch zu wählen. Mon dieu!
Wechseln wir besser wieder ins Deutsche. Mit dem Abschluss der Passerelle beginnt heute ein neues Kapitel unserer Geschichte. Auch im Geschichtsunterricht haben wir innerhalb des letzten Jahres viele Kapitel hinter uns gebracht. Von Revolutionen über Kriege bis zum Hier und Jetzt haben wir fast alles gelernt. Eindrücklich war, dass es bei den meisten Geschehnissen nur selten eine einzige richtige Sichtweise gibt. Je nachdem, wie jemand aufwuchs, in Bezug auf Umwelt, Religion und Kultur, werden Ereignisse auf verschiedene Arten wahrgenommen. Wenn man sich dessen bewusst wird, hat man Einsichten für das ganze Leben gewonnen, welche so nicht einmal im Geschichtslehrplan stehen.
Was allerdings durchaus im Lehrplan zu finden ist, sind die Grundlagen der Chemie. Ob Atommodelle, Säure-Base-Reaktionen oder organische Chemie – die Vorträge zu später Stunde an der MSE zeigten uns, wie komplex und faszinierend die ganze Welt um uns herum eigentlich ist. Im Verlauf des Jahres hat mir das Fach vor allem eine Frage als ständigen Begleiter zu Seite gestellt: Wie erkläre ich meinem Mami, dass ich kein Anwalt werde, weil meine Kenntnisse der organischen Chemie offensichtlich massiv ungenügend sind?
Unser Input geht nicht mehr allzu lange, aber bleiben Sie bitte bei uns oder, um es in den Worten unserer Mathematiklehrerin auszudrücken: «Jetzt isch es wüüürklich wichtig, dass Sie ufpassed!» Und glauben Sie uns, es war wirklich wichtig, wenn dieser Satz fiel und danach weitere Informationen addiert wurden. Vom Integral mit Ableitungen und Stammfunktionen, Geraden und Ebenen bis hin zur Wahrscheinlichkeitsrechnung – wir haben alles gesehen.
Diese Eindrücke haben wir über unsere Sinnesorgane aufgenommen, über Neuronen weitergeleitet und im Gehirn verarbeitet – genau das haben wir unter anderem in Biologie gelernt. Teilweise war der Unterricht, nennen wir es mal unterhaltsam, und wich vielleicht etwas vom Lernplan ab. Durch unerwartete Zwischenfragen haben wir auch gelernt, wie gewisse Substanzen auf die Sinnesorgane und das Nervensystem wirken und unsere Wahrnehmung auch auf diese Weise erweitern können. Das Ganze klingt viel schlimmer als es war, Selbstexperimente blieben selbstverständlich aus, und wir haben wirklich viel gelernt.
Auch wenn wir vieles über den Menschen und seine Umwelt erfahren haben, mussten wir dennoch begreifen, dass es bis heute viele Dinge in der Wissenschaft gibt, die noch nicht ganz erklärt werden können.
Abläufe im Innern des Körpers bleiben unverstanden, aber gleichzeitig ist die Rede von bemannten Marsmissionen und davon, dass uns künstliche Intelligenz vielleicht schon morgen ersetzt.
Zurück zu euch, liebe Absolventen und Absolventinnen: Wie geht es weiter? Wirst du der Mediziner, der die letzten Fragen der Humanbiologie klärt, die erste Astronautin auf dem Mars oder ein Philosoph, der die Lösung für das perfekte Harmonieren zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz präsentiert?
Solche Entscheidungen sind immer schwer zu treffen, aber wir geben euch einen kleinen Tipp: ChatGPT kann, wie wir mittlerweile wissen, vieles, aber die Antwort auf diese Frage müsst ihr leider selbst finden: Wer wollt ihr sein?
Findet es heraus, aber nicht mehr heute. Jetzt ist der Zeitpunkt, um zu feiern und zu geniessen. Vielen Dank und nochmals herzliche Gratulation.