«Ich bin gespannt, wie es weitergeht.»
Eine digitalisierte Lektionenreihe verbindet Erwachsene und Teenager
Für die meisten Lehrpersonen an der MSE gibt es zwei Unterrichts-Welten. Die der Stammschule, an der man Jugendliche unterrichtet, und die der MSE mit ihren erwachsenen Studierenden. Manchmal kommt es zu Terminkollisionen, aber im Grossen und Ganzen haben die beiden Sphären, wenn man nicht gerade an der Kantonsschule Reussbühl unterrichtet, nichts miteinander zu tun. In einer schreibdidaktischen Lektionenreihe habe ich das für einmal geändert. Wie es dazu kam und welche Erfahrungen damit gemacht wurden, soll hier kurz umrissen werden.
Der Lockdown im Frühjahr 2020 hatte mich gezwungen bzw. motiviert, eine Lektionenreihe «Spannend schreiben» gänzlich digital durchzuführen: Die Studierenden schrieben jeweils wöchentlich kürzere literarische Beiträge in ein persönliches Online-Journal. Als Grundlage dienten Beispiele aus der Weltliteratur, theoretische Beschreibungen und vor allem darauf aufbauende Schreibaufgaben[1]. Diese Elemente wurden digitalisiert und online zur Verfügung gestellt, schriftlich (PDF) sowie gesprochen (als MP3).
Die beurteilenden Kommentare zu den schriftlichen Beiträgen der Studierenden wurden von mir, der Lehrperson, direkt in deren Online-Journale geschrieben. Das las sich dann besipielsweise so: «Einige Stellen sind mir besonders positiv aufgefallen; das Gefühl der Wehrlosigkeit, weil die Waffe vergessen ging, und das Misstrauen, das entsteht, obwohl die Gastgeber dem Protagonisten versichern, dass er sicher sei, das ist ein reizender Twist! Mir gefällt der letzte Satz (‹er schlief diese Nacht keine Minute mehr›), weil er auch die Konsequenzen der Begegnung vermittelt und so den Schrecken rückwirkend noch bestätigt. Gegen Schluss fand ich die Bedrohung noch nicht so aussermenschlich wie gefordert, es ist eher eine Wiederholung des Anfangs. Achte auf die Kommasetzung bei Satzverbindungen, und vermeide Wortwiederholungen.» Man merkt, dass es der Deutschlehrer nicht lassen kann, auch auf formale Aspekte hinzuweisen. Dass ganz andere Formen der Rückmeldung möglich sind, wird weiter unten aufgezeigt.
Die einst aufwändig erstellten Materialen standen jedenfalls für eine weitere Durchführung bereit. Anders als bei der oben beschriebenen Variante habe ich jetzt die Gelegenheit genutzt, eine 2. Kurzgymi-Klasse der Kantonsschle Schüpfheim mit einer MSE-Klasse kurzzuschliessen. So würden Erwachsene die Texte von 16-Jährigen, die sie nicht kennen, begutachten – und umgekehrt! Dieser Austausch war freiwillig, die Bereitschaft war auf beiden Seiten aber erfreulich gross (MSE über 70 Prozent, KSSch über 90 Prozent). Ich habe also Paarungen zusammengestellt, die sich gegenseitig Rückmeldungen schreiben sollten. Diese Paarungen waren fest, damit auch über Entwicklungen gesprochen werden konnte, bei wechselnden Rollen sollte so etwas wie ein Vertrauensverhältnis entstehen.
Diese Festlegung hielt aber auch meinen organisatorischen Aufwand in Grenzen. Bei denjenigen Studierenden und Schülerinnen, Schülern, die ihre Texte ausdrücklich nicht von anderen begutachtet haben wollten, hatte weiterhin ich die Rückmeldungen zu schreiben. Aber auch sonst war der Aufwand für mich als Lehrperson mit der Idee der klassen-/stufenübergreifenden Rückmeldungen nicht geringer, als wenn ich die Rückmeldungen wie bei der ersten Durchführung von Anfang an gleich allen selbst geschrieben hätte. Es galt, einen wegen Feiertagen und Ausfällen usw. komplizierten Zeitplan zu erstellen, die Aufgaben zu koordinieren und zu kontrollieren: Ich musste zu bestimmten Terminen prüfen, wo Rückmeldungen geschrieben wurden oder ausblieben und gegebenenfalls selbst einspringen. Auch mussten neben den Texten auch die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler sowie der Studierenden wenigstens überflogen werden, um deren Qualität und Angemessenheit sicherzustellen; bei allfälligen Verstössen war einzugreifen; es galt beispielsweise die Anweisung, auf Rechtschreibfehler nicht einzugehen.
Die Tatsache, dass die Autorinnen und Autoren mit diesem Modell auch zur kritischen Lektüre anderer Texte aufgefordert waren, hat sich bewährt. Die Rückmeldungen, die nicht durch mich, den Lehrer, erteilt wurden, haben mich sehr in meiner Idee bestärkt. Die Bedeutung vor allem eines Faktors hatte ich in ihrer Wirkungskraft im Vorfeld nicht hoch genug einschätzen können: Die Beiträge wurden durch «echte» Leserinnen und Leser kommentiert, nicht wie sonst von der bekannten Lehrperson. Das hatte, soweit ich das sehen kann, einen grossen Einfluss auf die Neugierde, das Gewicht, den Ton, die Aufmerksamkeit, das Interesse u. v. m. bei beiden Klassen. Angesichts der Tatsache, dass die Klassen sonst schon genug Texte von mir beurteilt bekommen, dürfen eben auch einmal andere Faktoren im Vordergrund stehen. Hier das Beispiel der Rückmeldung einer Schülerin an einen MSE-Studenten:
«Lieber Herr X, ich fand Ihren Text sehr spannend, und ich bin schon gespannt, wie es weiter geht. Die Beschreibung der Situation und der Umgebung finde ich sehr gelungen. Einerseits weil Sie es interessant geschrieben haben und andererseits, weil man weiss, dass irgendwann etwas passieren muss, und man sich die ganze Zeit fragt, was das sein wird. Mir gefällt, dass der Schluss Ihrer Geschichte viel Spielraum offenlässt für eine spannende Fortsetzung. Liebe Grüsse Y»
Und die Antwort, die diese Schülerin zur nächsten Aufgabe unter Ihrem Beitrag lesen konnte:
«Hoi Y! Die Stimmung passt und man ist richtig darauf gespannt was nun diese Schrammen verursacht hat. Vielleicht hättest du noch etwas krasser andeuten oder sogar zeigen können, dass es sich um ein ‹übermenschliches Phänomen› handelt. Dies ist natürlich nur meine Sicht und es kann gut sein, dass ich Holzkopf den Auftrag falsch verstanden habe. Ach, übrigens darfst du mich gerne duzen. Ich fühle mich mit meinen 21 Jahren noch überhaupt nicht wie ein ‹Sie›. Gruss X»
Ich hoffe, dass sich diese Lektionenreihe bald wiederholen lässt. Die Anlage mit den klassenübergreifenden Rückmeldungen würde ich beibehalten. Das bedingt allerdings, dass ich an beiden Schulen gerade je eine Klasse der entsprechenden Stufe unterrichte und sich die Jahresplanung danach ausrichten lässt. Ich würde mich als Lehrperson dann konsequent zurücknehmen, auf dass die Unterrichtstexte einmal mehr auf unbekannte, «echte» Leserinnen und Leser und ihre Reaktionen treffen. Denkbar wäre es, die Digitalisierung dieser Lektionenreihe noch weiter zu treiben und zum Beispiel zeitnahe Rückmeldungen während des Schreibprozesses in Chats oder per Online-Konferenzen zu initiieren.
Dr. Ralf Junghanns
[1] Bedient habe ich mich hierzu bei Christian Schärf: Spannend schreiben. Krimi-, Mord- und Schauergeschichten. Mannheim, Zürich 2013 (Duden: Kreatives Schreiben).