Deutschlektüre auf der Bühne und im Kino

Manche Studierende fragen sich wohl ab und an, ob die Autor*innen sich tatsächlich so viel und genau das überlegt hätten, was ihre Deutschlehrpersonen aus den Werken herauslesen oder gar hineininterpretieren. Wagen sie diese kritische Bemerkung auszuformulieren, erhalten sie wohl zur Antwort: Relevant sei nicht, was sich die Autor*innen gedacht hätten. Ein Werk könne vielmehr für sich selbst sprechen, zumal viele der Verfassenden ja nicht mehr befragt werden könnten.

Am Samstag, dem 19.2.2022 erhielten die Studierenden der Passerelle die Möglichkeit zu einem direkten Austausch mit der Berner Autorin, Performance- und Spoken Word-Künstlerin Ariane von Graffenried, mit deren Werk sie sich im Deutschunterricht beschäftigt hatten. Begleitet wurde diese vom Multiinstrumentalisten Robert Aeberhard, mit dem sie das Künstler-Duo Fitzgerald und Rimini bildet. Ihr Gastspiel in der Aula der KSR begannen sie mit der Performance ausgewählter Texte aus ihrem neusten Werk 50 Hertz, für das sie im Jahr 2020 den Literaturpreis der Stadt Bern erhielten. In ihren hybriden lyrischen Texten, die zwischen Spoken Word, Balladen und Popsongs chargieren, widmen sich die beiden historischen und fiktionalen Frauenfiguren, die in unserem kollektiven Kulturgedächtnis mehr oder minder verzerrt herumgeistern. Die balladenartigen Songtexte werfen einen (ver-)störenden Blick auf (un)-bekannte Frauenfiguren wie Fräulein Rottenmeier oder Calamity Jane und konfrontieren die Lesenden mit ihren festgefahrenen Geschichts- und Frauenbildern. Dieser analytische, kritische Blick bereichern Fitzgerald und Rimini assoziativ. Ihre teilweise mehrsprachigen Texte sind reich an unerwarteten Assonanzen, Sprachspielen, Rhythmen und Klängen, die dichte Assoziationsräume eröffnen. Die Instrumentalisierung unterstützt oder unterläuft die sprachliche Spur. So wurde beispielsweise ein Bohrer zum Instrument umfunktioniert, was das Motiv der Störung, worauf der Titel 50 Hertz anspielt, versinnbildlicht.

Kaum hatte die eidgenössische Kommission die Wahl der literarischen Werke für das Passerellenschuljahr 2021/22 bekannt gegeben, spielten wir Deutschlehrpersonen mit dem Gedanken, nach einer mehrjährigen, u.a. durch Covid bedingten Pause, die Tradition der Lesungen an der Passerelle wieder zu belegen und das Berner Performanceteam an die MSE einzuladen. Dessen auf die Performance hin angelegte hybride literarische Form drängte eine Einladung geradezu auf. Trotz planerischer Unsicherheit angesichts der unberechenbaren Covidsituation stiess die Idee bei der Schulleitung auf offene Ohren. Um die geforderten Sicherheitsabstände einhalten zu können, planten wir zwei Aufführungen hintereinander. Der Anlass fand am Samstagnachmittag unmittelbar vor den Winterferien statt und doch ergriffen praktisch alle Studierenden die einmalige Möglichkeit, die Texte und ihre Autorin live zu erleben. Viele Studierende waren beeindruckt von der gekonnten Performance von Fitzgerald und Rimini, die das gewohnte Format der Lesung aufbrach und bisweilen an ein Popkonzert erinnerte. Vielen Dank an dieser Stelle an Roland Wechsler für die grosse Unterstützung beim technischen Aufbau!

Die Studierenden hatten sich im Unterricht intensiv mit dem Werk 50 Hertz beschäftigt und selbstständig ausgewählte Texte in Gruppen analysiert. Weil zu 50 Hertz im Gegensatz zu den Klassikern der Literatur wie Büchner und Kästner noch keine Unterlagen zur Erläuterung der literarischen Werke existieren, mussten sie also bis zum 19.2.22 ganz auf ihr eigenes analytisches Handwerk vertrauen.

Eine allfällige Hoffnung, die vielfältigen Texte von der Autorin persönlich auf eine klare Botschaft hin ausgelegt zu bekommen, blieb jedoch im anschliessenden Gespräch mit den Küstler*innen unerfüllt. Die beiden beantworteten engagiert die vielfältigen Fragen der Studierenden und reagierten angeregt auf deren Hypothesen. Ihre eindrückliche Performance regte einen Studenten gar zur Frage an, inwieweit Ariane von Graffenried auf der Bühne als Figur oder als Künstlerin spreche. Diese antwortete mit interessanten Überlegungen zu Formen der Empathie, einer Grundfähigkeit des menschlichen Zusammenlebens. Weiter gewährten die beiden Einblicke in ihren Arbeits- und insbesondere in ihren intensiven Rechercheprozess und thematisierten ihre Motivation, gängige Rollen- und Geschichtsbilder als Konstruktion von vorherrschenden Gesellschaftsgruppen zu entlarven und auf die Lücken im kollektiven Gedächtnis hinzuweisen. Solange solche Verdrängungsmechanismen unbemerkt blieben, reproduzierten sie sich in der Gegenwart. Weiter wollten Studierende wissen, weshalb sich von Graffenried in vielen Texten für eine Mehrsprachigkeit entschieden hätte, die doch zahlreiche, nicht des Englischen mächtige Lesende ausschliesse. Auf diese eher unerwartete Frage hin erklärte Ariane von Graffenried, dass sie damit auf den aktuellen kulturellen Wandel reagiere und vielleicht auch Lesende in die Situation der wachsenden Anzahl von Menschen hineinversetze, die im deutschen Sprachraum lebten, die deutsche Sprache aber nicht vollumfänglich beherrschten. Die Studierenden beeindruckten ihrerseits das Kollektiv mit ihren Hypothesen zu Anspielungen beispielsweise auf historische Fakten und Songs, die sie während ihrer Beschäftigung mit den Texten entdeckt hatten. Ob diese vom Künstler Duo bewusst gesetzt wurden, spielte spätestens jetzt – angeregt durch den spannenden Dialog mit Fitzgerald und Rimini – keine ausschlaggebende Rolle mehr.

Bereits im Dezember 2021 besuchten alle Passerelle-Studierenden gemeinsam in einer Spezialvorstellung im Kino Bourbaki die aktuelle Verfilmung von Kästners Romans Fabian oder der Gang vor die Hunde in der Regie von Dominik Graf, ebenfalls ein Werk der Passerellen-Lektüreliste. Die Stimmung war gut – auch ein paar andere Fachlehrpersonen begleiteten die Deutschfachschaft mit ihren Klassen. Alle genossen es, endlich mal wieder gemeinsam Kultur zu geniessen. Im Anschluss entstanden spannende Gespräche, in denen manche Studierende berichteten, dass sie schon seit Jahren nicht mehr im Kino gewesen seien. Der Rückgang der Kino- und Theaterkultur ist ein Grund mehr, auch in Zukunft den Mehraufwand für solche den Deutschunterricht ergänzende kulturelle Fenster nicht zu scheuen.

Anne-Christine Gnekow

“50 Hertz” mit “Fitzgerald und Rimini”, 19. Februar 2022

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